Hüfner: Ist die Preissteigerung zu niedrig?
- Die Preissteigerung im Euroraum hat sich in den letzten zwölf
Monaten in geradezu beängstigender Weise verringert. - Formaljuristisch ist das eine deutliche Zielverfehlung der
Zentralbank. - Für die Volkswirtschaft insgesamt überwiegen jedoch die
positiven Effekte.
Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht es dramatisch aus.
Seit einem Jahr geht die Inflationsrate im Euroraum fast kontinuierlich nach
unten. Sie hat sich binnen zwölf Monaten mehr als halbiert, von 2,3 % auf
0,7 %. Wenn das so weitergeht, dann sind wir bald bei null und darunter.
Der Absturz ist wesentlich stärker und schneller als die konjunkturelle
Abschwächung, die wir in dieser Zeit erlebt haben.
Müssen wir besorgt sein? Kündigt sich hier ein
Problem an oder sind wir vielleicht schon mitten drin? In keiner Weise. Eher
das Gegenteil ist richtig. Wir unterliegen bei den Sorgen vielmehr der
juristischen Fiktion, dass Geldwertstabilität nur dann gewährleistet sei, wenn
die Zunahme der Verbraucherpreise nicht höher und nicht niedriger ist als „knapp
unter 2 %“. So lautet aber nur das Mandat der Zentralbank. Der
normale Bürger denkt anders. Er wünscht sich nicht eine Inflation von 2 %,
sondern eher von null. Insofern ist die aktuelle Entwicklung der Preise für ihn
eher erwünscht.

Niedrigere Preissteigerungsraten sind aber auch sonst nichts
Schlechtes. Sie bedeuten, dass Verbraucher und Unternehmen für ihr Geld mehr
Güter und Dienste bekommen. Die reale Kaufkraft steigt. Das stabilisiert die
Konjunktur. Das ist gerade in der gegenwärtigen Situation hilfreich, in der vom
Export eher negative Einflüsse ausgehen. Durch die geringeren Preissteigerungen
wird die reale Binnennachfrage gestärkt.
In die gleiche Richtung wirkt der Wechselkurseffekt. Wenn
die Preise im Euroraum langsamer steigen als beispielsweise in den USA – was
derzeit tatsächlich der Fall ist – dann kommt dies bei konstantem Wechselkurs
einer realen Abwertung des Euro gleich. Die europäischen Unternehmen gewinnen
gegenüber den amerikanischen an Wettbewerbsfähigkeit. Das ist zwar kein
sanftes Ruhekissen, auf dem man sich ausruhen kann. Es hilft aber dem Export in
einer Zeit, in der er durch die weltweite Nachfrageschwäche besonders heftigem
Gegenwind ausgesetzt ist.
»Superbenzin hat sich in
Deutschland binnen Jahresfrist um 7,6 % verbilligt.«
Die niedrigeren Preissteigerungsraten helfen auch den Anlegern.
Sie bekommen zwar nicht mehr Zinsen. Es geht ihnen aber weniger Geld durch die
Inflation verloren. Real stellen sie sich mit ihren Ersparnissen besser. Der
Realzins, also der Nominalzins abzüglich Preissteigerungsrate, geht nach oben.
Das ist zwar keine großartige Verbesserung. Aber immerhin.
Wir sollten uns auch deshalb nicht über die niedrige
Inflation beschweren, weil sie nicht durch eine generelle Nachfrageschwäche
bedingt ist. Sie beruht allein auf dem Sonderfaktor Energiepreise. Superbenzin
hat sich in Deutschland binnen Jahresfrist um 7,6 % verbilligt. Für
Heizöl und Kraftstoffe mussten die Verbraucher in der Bundesrepublik sogar
9,1 % weniger ausgeben. Wenn man diese Bewegungen ausschaltet, sieht das
Bild ganz anders aus. Die Kerninflation (das heißt die Rate ohne Preise für
Energie und saisonabhängige Nahrungsmittel) hat sich in den letzten zwölf Monaten
fast gar nicht bewegt. Sie liegt weitgehend unverändert bei 1,2 %.
Das entspricht auch der Erfahrung im täglichen
Leben. Hier sieht man keinen Trend zu niedrigeren Preisen. Preise für
Dienstleistungen beispielsweise steigen um 1,6 % im Jahresvergleich. Für
Friseure und Körperpflege muss man 3,2 % mehr als vor einem Jahr ausgeben.
Die Wartung und Pflege von Autos kostet 5 % mehr. Verarbeitete Lebensmittel
einschließlich Alkohol und Tabak verteuern sich um 1,6 %. Selbst in der Industrie, die derzeit
konjunkturell so arg gebeutelt wird, gehen die Preise nicht zurück, sondern
erhöhen sich weiter.
Das wichtigste Argument gegen eine zu niedrige Preissteigerung
ist die Angst vor einer Deflation. Es könnte passieren, so wird befürchtet,
dass Verbraucher und Unternehmer bei Preissenkungen nicht mehr kaufen (weil sie
mehr Geld in der Tasche haben), sondern weniger. Das wäre dann der Fall, wenn
Sie erwarten, dass die Preise noch weiter zurückgehen und sie die benötigten
Güter und Dienste am Ende noch billiger bekommen.
Von einer solchen deflatorischen Selbstbeschleunigung sind wir aber meilenweit entfernt. Erstens
sinken die Preise nicht absolut, sie steigen nur nicht mehr so stark an. Es macht
also keinen Sinn, Nachfrage zurückzuhalten. Zweitens braucht es für eine Deflation auch entsprechende gesamtwirtschaftliche
Rahmenbedingungen, konkret einen Rückgang der realen Wirtschaftsleistung. Drittens braucht es auch ein dazu
passendes internationales Umfeld. Wenn überall in der Welt die Preise steigen,
ist es kaum denkbar, dass sie ausgerechnet im Euroraum sinken. In Deutschland
hat es in der Nachkriegszeit noch nie eine Deflation gegeben. Die letzte
Deflation war vor 90 Jahren in der Weltwirtschaftskrise.
Ich halte alle
Deflationsängste daher für gänzlich übertrieben. Aus diesem Grund würde es
mich auch nicht stören, wenn die Inflationsrate noch weiter zurückgeht. Erst
wenn wir bei null sind, würde ich genauer hinschauen, ob es Anzeichen
einer Selbstbeschleunigung gibt.
Muss die Politik handeln? Formaljuristisch kommt die Geldpolitik
in eine schwierige Position, da sie sich immer weiter von ihrem Ziel entfernt.
Andererseits hat sie durch ihre Maßnahmen im September schon so viele Register
gezogen, dass sie exkulpiert ist. Für die Gesellschaft insgesamt sind die
Auswirkungen der niedrigeren Preissteigerung positiv. Da gibt es keinen
Handlungsbedarf.
Für den Anleger
Die Inflationsrate ist in
den letzten Monaten etwas aus dem Fokus der Kapitalmärkte gerückt. Sie ist
weder zu hoch noch zu niedrig, als dass man sich im Euroraum Sorgen machen
müsste. Das ist kein schlechtes Zeichen. Verlassen Sie sich aber nicht darauf,
dass das so bleibt. Gerade die Ölpreise können sich schnell drehen.